Sensation: Stereotypen nicht mehr haltbar!

Beim mittäglichen Blick in die Zeitungskästen läuft einem heute bei der lieben Welt-Kompakt folgendes über den Weg:

Computerspieler lieben es gesellig

Ein Hoch auf die Wissenschaft. Wer bisher meinte, Frauen seien nur dann artgerecht gehalten, wenn Sie bei Zuruf innerhalb weniger Sekunden die Küche oder das Schlafzimmer erreichen, der halte an dieser Stelle kurz inne. Vorbei die Zeiten, in denen man in der U-Bahn um sein Leben fürchten musste, als der picklige Typ mit dem PC unterm Arm den Wagon betrat. Aus mit den blutrünstigen Überfällen von LAN-Partys auf benachbarte Kleingartenanlagen, mit anschließendem rituellen Verzehr der eigenen Geschlechtsteile.

Es ist seit heute wissenschaftlich belegt, dass Computerspieler keine “Einzelgänger am Abgrund von Sucht und Gewalt” sind. Vielmehr sind sie jetzt sogar “gesellig”, lieben gute Unterhaltung und schrecken auch vor “Albernheiten” nicht zurück. Kein schlechter Imagewandel.

Und auch ein recht kunstvolle Auschlachtung (denn auch, oder gerade, Redakteure populärer Blätter können sich dem Reiz virtueller Gewalt nicht entziehen) einer Medien- und Kommunikationswissenschaftlichen Veröffentlichung. Heute, da wiederholt Jugendliche den Massenmord als persönliche Ausdrucksform wählen, sucht die Presse natürlich nach Erklärungen. ArtikelauszugGegenwärtig spielen “37% der Bevölkerung ab 14 Jahren” Computerspiele – in der Altersgruppe der jugendlichen Amokläufer dürfte die Quote noch um einiges höher liegen – und so liegt es auch nahe, die zugegeben oft (und für mich persönlich auch gerne) gewalttätigen Spiele verantwortlich zu machen. Dies ist International viel praktiziert worden, man siehe zur deutschen Debatte z.B. wikipedia.org/wiki/Killerspiel. Die Computerspiele spielen natürlich eine Rolle im Heranwachsen eines zukünftigen Delinquenten, wie auch viele weitere mediale Einflüsse. Wer aber alle anderen Einflüsse vernachlässigt, und sie auf eine simple, einfach zu verstehende und schnell zu erklärende Ursache reduziert, ist schlichtweg dumm.

Nicht Andreas Hepp, Professor für Kommunkationswissenschaften an der Uni Bremen, auf dessen Artikel die Welt Kompakt sich in ihrem Headliner bezieht, ist dumm. Ich denke nicht, dass er in seinem Artikel „Vernetzt spielen – der unsichtbare Ordnungskosmos der LAN-Szene“ davon ausgegangen ist, die Teilnehmer einer LAN-Party verzehrten ihre eigenen Geschlechtsteile, worauf hin er die Feldforschung von seinen armen Assistenten in den Semesterferien erledigen ließ. Seine wissenschaftliche Arbeit besitzt sicher einigen Tiefgang.

Unter der güldenen Fahne der Wissenschaft lässt sich vieles leicht Behaupten, aber nicht einmal dem zuständigen Redakteur Peter Zschunke unterstelle ich Dummheit – der durchschnittliche IQ der Redaktion einer Springerverlagspublikation dürfte höher sein als der eines mittelständischen Unternehmens. Es ist nunmal einfach geil dem Normalbürger neues aus der Wissenschaft dick mit dem Sensationsmesser aufs Brot zu schmieren, und an die Leitlinie des Chefredakteurs sollte man sich halten, ist einem sein Job lieb. Auch nicht einem Leser, der solche Artikel ernstnimmt kann man seine Ignoranz wirklich vorwerfen, vertraut er doch nur auf die Seriosität seiner Zeitung. Naja, vielleicht ist doch ein wenig Vorwurf drin, für den Normalbürger.

Einer Tageszeitung aber, die ihre Berichterstattung der Weltsicht eines Vorschülers anpasst, kann man durchaus den Vorwurf machen, rein garnichts zur Weiterbildung seiner Leserschaft zu tun. Sie an Dummheit als Standard zu gewöhnen. Und das ist meiner Meinung nach einfach eine Frechheit.
Wer die Bild ernstnimmt, ist sicher selbst schuld. Die Welt Kompakt verkauft sich aber unter dem Deckmantel der Seriosität (“überregionale Qualitätszeitung”, “Zeitung der neuen Generation”) und als solche trägt sie meiner Meinung nach auch die Verantwortung, ihrem Anspruch gerecht zu werden. Aus einem kulturwissenschaftlichen Artikel eine geile Headline zu machen, die sich auf die wissenschaftlichkeit als Rechtfertigung stützt, und darin zu postulieren, das in der Gesellschaft etablierte Bild des Computerspielers sei das eines Menschen am Abgrund, ist einfach zu fahrlässig um keinen Kommentar dazu abzugeben.

Die Ausschnitte aus der Welt-Kompakt unterliegem dem Urheberrecht des Axel Springer Verlags



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